Tobias Gerber  ·  Unter der Decke


Unter der Decke von Quentin Gluck

Selten hat etwas meinen Unwillen erregt wie der Satz eines deutschen Philosophen, der da lautet:

"Es gibt kein richtiges Leben im falschen."

Wahrscheinlich sind meine gesellschaftlichen Lebensumstände mit Fug und Recht als falsch zu bezeichnen. Unberührt davon bleibt mir jedoch meine physische Existenz als kleines und einziges biologisches Fenster. Seit einiger Zeit versuche ich daher, mein richtiges Leben als falsches auszugeben. Auf diese Weise fühle ich mich dem sozialkritischen Appell des deutschen Philosophen nicht verpflichtet. Aber ich bin inspiriert und sammle seither Beispiele für komplexe Situationen, wie um den deutschen Philosophen zu widerlegen.

Fühlen Sie sich z.B. in folgende Szene eines amerikanischen Spielfilms versetzt: Ein Fluchtwagen samt Gangster und Geisel wird von der Polizei gestellt, der Entführer zur Aufgabe aufgefordert. Scharfschützen sind zur Liquidierung des Verbrechers postiert. Als sich die Wagentür öffnet, erscheint eine formlose Gestalt. Es sind der Entführer und seine Geisel unter einer großen Decke, die den Scharfschützen die Sicht nehmen soll. Die wandelnde Decke trippelt langsam und zielstrebig aus dem Schußfeld. Macht sich der verantwortliche Polizeioffizier nun die Voraussetzung zueigen, es gebe kein richtiges Leben im falschen, wird er ohne Zögern den Schießbefehl erteilen ("Tötet sie alle, Gott erkennt die Seinen!", Abt Amaud-Amaury 1209 in Beziérs). Unter der Decke im Dunkeln nun sehe ich Sie, verehrter Leser, einverleibt einer bösen Decke mit Beinen...
Der Vollständigkeit halber erwähne ich hier -obwohl es meinen Intentionen schaden mag-, daß die Decke im Film leer aufgefunden werden wird, ebenso die ermordete Geisel, durch einen Stich ins Auge getötet.

"Rosiña auf dem Baum" wiederum liefert mir ein merkwürdiges Beispiel für das bizarre existentielle Drama an sich, das keine Fragen nach Richtig und Falsch erträgt. Die abgebildete Zeichnung bezieht sich auf eine wahre Begebenheit im überfluteten Moçambique. Dort rettete sich eine Hochschwangere aus reißendem Hochwasser auf einen Baum, wo sie ein gesundes Kind (Rosiña) gebar, um dann von einem Helikopter geborgen und auf festem Boden sicher abgesetzt zu werden. Bilder der Rettung selbst kenne ich nicht, aber Fernsehaufnahmen der Landung. Dem Helikopter entstieg eine Mutter mit mißgelauntem, aber keinesfalls erstauntem Gesichtsausdruck.

Quentin Gluck, Brüssel 2003


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